Wer immer hofft, stirbt singend …

© dctp

» Was macht der Liebe Mut? Wenn sie doch ein Labyrinth ist? Nichts kann die Liebe davon abhalten, auf ihr Glück zu wetten … «

Blechernes Glück

» Eine junge Frau stürzte sich von einer der Terassen des Doms von Mailand. Sie war entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Mit einem Schrei des Entsetzens fiel sie, sie hatte die Stärke ihres Entschlusses überschätzt.

Durch Fügung fiel sie auf die Blechkarosse eines Kraftfahrzeuges. Später erzählte sie, sie habe befürchtet, als Leiche auf dem Pflaster des Domplatzes unschön auszusehen. Tatsächlich sah sie, von viel Blech umhüllt, aber auch im Fall gebremst, auf groteske Weise beschädigt aus.

In der Klinik wurden alle Lebensfunktionen des geschundenen Körpers (den Geist zu einem Versuch der Selbsttötung getrieben und den die Geister des Doms zu schützen gewußt hatten) als intakt diagnostiziert. Wilma Bison hatte sich im Alter von 35 Jahren aus Odessa in den Westen durchgeschlagen, ihr Glück versucht, nach ihren Eindrücken Unglück geerntet und so den gräßlichen Entschluß gefaßt, der zu einem glücklichen Ende führte. Ihre Rettung, die in den Boulevardblättern verbreitet wurde, führte zur Verbindung mit einem Mann aus Lugano, der sie künftig schützte. «

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aus:
‚Und will ich in die Sterne sehen, muß stets das Aug mir übergehen‘
in:
‚Das Labyrinth der zärtlichen Kraft‘; Suhrkamp 2009


happy birthday!, lieber alexander kluge: auf dass sie uns weiterhin labyrinthische lieder singen werden

» Ich bin gealtert vor Sehnsucht nach

Feuchten Februaren und verspäteten Aprilen
Um dir ein Maiglöckchen zu schenken
Wie viele bleiche Nächte hab ich gewacht
Um den Mond zu befragen
Ob deiner Treue
Ich habe elektrische Sommer ertragen
Dein Telegramm erwartend
Und an den Abenden der Traurigkeit
Streichelte ich die Hände sterbender Lilien

Jede Jahreszeit ist gut für die Arbeit des Herzens:
Bauer des Himmels
Säe und ernte ich Sterne
Um uns zu ernähren meine Geliebte «

IWAN GOLL

» Ich liebe die Stille zwischen uns

Dieselbe Stille wie zwischen Blumen.
Das leise Schweigen am Morgen,
Das lautere des Abends
Und das zitternde zu Mitternacht
Das um den Andern fürchtet.

Ich mag nicht, dass Menschen kommen
Und uns unsere Stille stehlen,
Die gross ist wie die Stille der Kathedralen.
Ach, wie sie es zerbrechen
Unser blaues Schweigen aus venetianischem Glas.
Ich könnte weinen, wenn Fremde kommen.
Nur die Vögel draussen verstehen uns
Und singen unsre Stille
Und machen uns noch stummer vor der Ewigkeit.
Stille, süsser Vorschuss auf den Tod,
Sag dem Geliebten wie ich ihn liebe. «

CLAIRE GOLL

RÄTSEL I

Ich sage, ich liebe dich,
Und ich sage, der Mond wärmt mich,
Und ich sage, der Regen steigt,
Und ich sage, wer spricht, der schweigt,
Und ich sage, was fragst du mich,
Und ich sage, ich liebe dich.

EVA STRITTMATTER

( aus: ‚Ich mach ein Lied aus Stille‘;
in: ‚Sämtliche Gedichte‘, Aufbau-Verlag 2015 )

» NEUJAHRSNACHT «

Es steht mir herein der Orion
Ins Fenster wölbt sich die Neujahrsnacht,
Die still ist und ohne störenden Ton
Und nicht zuschanden gemacht
Von Trunkenheit und Witz aus dem Wein
Und jener Scheinharmonie.
Das kann ich jetzt: mit mir selber sein
Und fern von Angstsympathie.
Ich brauche den Rausch immer weniger.
Ich liebe das klare Nein
So wie das klare Ja zum Tag:
Glück und Leiden: alles soll sein.
Immer her damit! Hier wird angenommen,
Was das Leben was immer uns will.
Leicht hab ich den Nachtgrat des Jahres erklommen
Und die Waage stand gleich und still.


EVA STRITTMATTER
( aus: ‚Mondschnee liegt auf den Wiesen‘ )


» Illi poena datur, qui semper amat nec amatur. «
– Walther, Proverbia sententiaeque 11477 –

dies faustus.


2018 – quintessenz (finale)

den letzten gedanken, den ich 2018 denn widmen möchte, ist jener über meine (gefühlt) wohl endgültige desillusionierung darin, dass sich liebe in zeiten des (neoliberal durchwirkten) kapitalismus (noch) entwickeln kann – eine äußerst schmerzliche erkenntnis aus nunmehr etwas mehr als 28 jahren aktiven lebens unter dessen ägide …

es gibt dafür mannigfaltige formen von zweckgemeinschaften, in denen man sich gegenseitig beständig beteuert, wie sehr man sich bräuchte: um entspannt die anhäufung von besitztümern/geld als primären –wenn nicht gar einzigen– lebenssinn zu kultivieren.

liebe war, ist und bleibt für mich jedoch etwas, das sehr viel tiefer in das sein (des wesens) eindringt – und zudem verändert. und glücklicherweise braucht sie für eine wirkungsentfaltung weder geld noch ein materielles fundament, das als ihre ‚absicherung‘ fungiert.

wir lesen uns (vielleicht): im februar.

mehr luxus, als zeit zu haben, gibt es nicht …

ein sehr, sehr schwieriges jahr neigt sich seinem ende …

… aber nun, da ich wieder wesentlicher bei mir bin und wieder weiß, worauf es ankommt, erinnere ich, dass ich dieses jahr das dritte jahr in folge bereits ab mitte dezember arbeitsfrei habe und sich dieser „zustand“ bis mariä lichtmess wird hinziehen.

seit ich eine an radikalität kaum mehr zu übertreffende teilzeitstrategie verfolge, ist es mir immer wieder gelungen, sehr schwierige phasen in meinem leben zu meistern. mir wird wieder bewusster, dass der faktor zeit für mein sein (sehr oft) die mit abstand höchste wirkungsmächtigkeit entfaltet (hat). zugleich wird mir aber auch (wieder) deutlich bewusster, wie surreal mich das geld- und besitzstreben meines umfeldes anmutet. zwischen uns liegen dimensionen. und das ist auch gut so.

sich die zeit zu nehmen, die man braucht, ist das schönste, was man sich schenken kann; dafür bin ich unendlich dankbar … und es macht auch glücklich, dass man es selbst in der hand hat, sich dies zu schenken. ich freue mich daher sehr auf die kommenden wochen, die ich fastend und entsagend (von manch lieb gewonnenem) verbringen werde.

auf bald …

Noch einmal durchwacht …

» Gedicht Luft, die sich meißelt und zerstreut,
flüchtiges Gleichnis der wirklichen Namen.
Manchmal atmet die Seite:
die Zeichenschwärme, diese heimatlosen
Gemeinwesen aus Lauten und Bedeutungen,
in magnetischer Drehung, binden sich und zerstieben
auf dem Papier.

[…] «

OCTAVIO PAZ
( aus: ‚Noch einmal durchwacht‘
in: ‚Das fünfarmige Delta‘; Suhrkamp, 2000 )

Wider den Normopathen

» Ein Normopath ist stets normal und angepasst, sein Verhalten überkorrekt und überkonform. Die Zwanghaftigkeit, mit der er den Erwartungen entspricht, verrät indes, dass er ein falsches, ein unechtes Leben führt. Krank ist nicht nur er, sondern vor allem die Gesellschaft, in der er lebt und deren Anpassungsdruck er sich unterwirft – bis er die Gelegenheit gekommen sieht, seine aufgestaute Wut an noch Schwächeren oder am ›System‹ abzureagieren. «

( aus: Maaz, Hans-Joachim: » Das falsche Leben – Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft « ; C.H. Beck-Verlag, 2018 )
 

» Wer den Mut zum Ungehorsam hat, der entzieht sich nicht nur vermeintlichen Autoritäten, sondern nimmt die Menschen lebendig und mitfühlend wahr. Wie sehr die Kultur des Gehorsams entmenschlichen kann und welche Wege aus dem Kreislauf der Unterordnung führen, zeigt Arno Gruen: ein befreiendes Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit.
Lange bevor wir sprechen können und sich unser Denken organisiert, müssen wir lernen, gehorsam zu sein und unsere Gefühle zu unterdrücken. In allen Lebensbereichen erzwingt unsere Zivilisation einen reflexartigen Gehorsam. Zugleich belohnt sie ein Gruppendenken, das ein selbstbestimmtes, freies Denken unmöglich macht. «

( aus: Gruen, Arno: » Wider den Gehorsam « ; Klett-Cotta-Verlag, 2014 )
 


das buch von hans-joachim maaz reiht sich neben jenen von arno gruen u. v. a. und meiner nunmehr über 28-jährigen erfahrung, die ich im zeitalter des aktiv wirkenden neoliberalismus gemacht habe, zu jenem befund zusammen, den ich dieser form des kapitalismus seit längerem attestiere: entmenschlichung, auszehrung von werten und kulturen, die menschen prägen, auszehrung des sozialen bewusstseins — um den ‚preis‘ einer pseudo-individualisierung. die letztlich aber nur ein kernziel hat: sich im eigentums- und besitzstreben möglichst gut unterscheiden zu können und das gefühl vermittelt zu bekommen, dass die neoliberal geprägte bildung etwas (ein)gebracht hat: nämlich größtmöglichen profit.

von daher mag ich lieber noch stärker, noch intensiver, träumender, individualistisch lebender sozialist bleiben, denn kapitalistische marionette dieses neoliberalen gesellschaftssystems.

für mich bleibt es ein großer irrglaube, dass gemeinschaft(ssinn) und mitmenschlichkeit möglich sind, ohne sich zurückzunehmen, ohne verzicht als lebendiges mittel im selbstverständnis jenes seins zu verankern, das (sich) entwickeln will und möchte …

… denn ich bin davon überzeugt, dass man sich individuell vielfältig entwicklen kann, auch ohne sich der zur puren ideologie verkommenen maxime des strebens nach geld und besitz im besonderen bzw. materialismus im allgemeinen, zu unterwerfen. für mich zeitigt das üben in verzicht die nachhaltigste form des lebens (überhaupt) und ist zugleich wesentliche ausdrucksform meiner mitmenschlichkeit und empathie, die meines erachtens sehr viel sozialer ist und der sehr viel mehr gemeinschaftssinn innewohnt, als ihren neoliberal geprägten fomen, da sie auf das (mensch-)sein aller menschen abzielt; nicht nur auf jenes derer, die mit ihren formen von empathie überwiegend eher eine art von ablasshandel betreiben, um den status ihres seins weiter legitimieren zu können …

» An die Freunde in schwerer Zeit «

Auch in diesen dunklern Stunden,
Liebe Freunde, laßt mich gelten;
Ob ichs hell, ob trüb gefunden,
Nie will ich das Leben schelten.

Sonnenschein und Ungewitter
Sind des selben Himmels Mienen;
Schicksal soll, ob süß ob bitter,
Mir als liebe Speise dienen.

Seele geht verschlungene Pfade,
Lernet ihre Sprache lesen!
Morgen preist sie schon als Gnade,
Was ihr heute Qual gewesen.

Sterben können nur die Rohen;
Andre will die Gottheit lehren,
Aus dem Niedern, aus dem Hohen
Seelenhaften Sinn zu nähren.

Erst auf jenen letzten Stufen
Dürfen wir uns Ruhe gönnen,
Wo wir, väterlich gerufen,
Schon den Himmel schauen können.

HERMANN HESSE
( aus: »Vom Baum des Lebens« )